Aufzeichnungen über die Nachkriegszeit in unserem Städtchen Nastätten
Aufgestellt von den damaligen:
Bürgermeister David Seibel
Stadtsekretär Wilhelm Westerburg
Polizeichef Fritz Rück
Abschrift/ Digitalisierung Stadtarchiv Nastätten 2020
Nachdem die feindlichen Heere der deutschen Grenze näher rückten und nach hartem Kampfe bei Aachen und in Elsas Lothringen eindrangen, stand für die Bevölkerung fest, dass dieser Krieg für Deutschland und auch für Europa, wie unsere Führung sich ausdrückte, verloren ging. Nachdem nun die feindlichen Truppen am Rhein standen und bei Remagen über den Rhein gingen, bestand bei uns kein Zweifel mehr, dass wir bald besetzt werden. Ganz besonders deutlich zeigte sich dies an der Unruhe der führenden Behörden, wie Kreisleitung und Landratsamt. Durch den Artillerie Beschuss von der linken Rheinseite auf St. Goarshausen verschwanden diese Behörden aus St. Goarshausen. Die Kreisleitung nahm Aufenthalt im neuen Forstamtsgebäude in unserem Städtchen, während sich das Landratsamt in Strüth niederlies. Als nun der Kreis St. Goarshausen in die unmittelbare Gefahr geriet besetzt zu werden, erlies der damalige Landrat des Kreises St. Goarshausen Dr. Hövel sämtliche Bürgermeister seines Kreises folgende Verfügung oder Anordnung mit ungefährem Inhalt:
„Im Falle der Feindbesetzung kurz vorher hat jeder Bürgermeister der Parteigenosse ist, sein Amt an einen führenden Nichtparteigenossen abzugeben. Er selbst hat sich kurz vor der Besetzung in das noch nicht besetzte Gebiet zu begeben und dort weitere Anordnungen abzuwarten. Bürgermeister, die dies nicht tun, laufen Gefahr von den Besatzungsbehörden erschossen zu werden“.
Diese Anordnung traf auch auf den bisherigen stellvertretenden Bürgermeister Peter Haxel hier zu. Da dieser auch Parteigenosse war, musste er die Geschäfte befehlsgemäß an einen Nichtparteigenossen abtreten. Fühlungnahme mit dem damaligen Ortsgruppenleiter Karl Hehner und den Ratsherren Karl Gans, Christian Haxel, Robert Lenz, Wilhelm Lenz wurde der Landwirt David Seibel zum Bürgermeister bestimmt, der die Geschicke unseres Städtchens in so schwerer Zeit über den Berg hinüberretten soll. Nachdem der neu ernannte Bürgermeister sich nach reiflicher Überlegung bereit erklärt hat, die Geschicke der hiesigen Bevölkerung kurz vor der Feindbesetzung in die Hand zu nehmen, traten die bisherigen Leiter von ihren Ämtern zurück. Es war kein leichter Entschluss des neuen Bürgermeisters, sondern mehr ein persönliches Opfer, das er auf sich nahm, war er sich doch schon von vorherein im Klaren, dass schwere Aufgaben auf ihn warten würden.
So kam der 25. März 1945 ein Sonntag heran. Das Rathaus wurde durch Bombenwurf in das Anwesen des Dachdeckers Johann Rück und der Witwe Franz Oberländer, zweitere direkt gegenüber dem alten Rathaus stark beschädigt, sodass dieses nicht mehr benutzt werden konnte. Die Geschäfte des Bürgermeisteramtes wurden daraufhin in die alte Schule an der Oberstrasse verlagert.
An diesem fraglichen Sonntagmorgen war das Bürgermeisteramt geöffnet. Der stellvertretende Bürgermeister Haxel war ebenfalls zugegen. Am Tag vorher sagte Haxel zu mir, ich solle morgen gegen 2:00 Uhr nachmittags einmal zu ihm auf das Rathaus kommen. Als ich um die genannte Zeit hinkam, beauftragte mich der frühere Bürgermeister Haxel mit der Weiterführung der Bürgermeistergeschäfte, die ich auch unmittelbar darauf annahm. Bürgermeister Haxel verabschiedete sich daraufhin in sehr bewegten Worten von mir und seinen bisherigen Mitarbeitern und legte mir das Wohl der Gemeinde vertrauensvoll in meine Hand.
Durch starken Bombenüberflug saß die Bevölkerung an diesem historischen Nachmittag in den Bunkern. Auch der neue Bürgermeister Seibel musste mit seinem Mitarbeiter Sekretär Westerburg, des Öfteren den in der Nähe der Schule gelegenen Bunker aufsuchen. Jedes Mal, wenn der feindliche Überflug vorbei war, ging es wieder erneut an die Arbeit. So kam dann der Spätnachmittag heran. Als Bürgermeister Seibel und Sekretär Westerburg gemeinsam im Bürgermeisteramt waren, erfolgte gegen 6:00Uhr abends eine starke Detonation. Sofort wurde bekannt, dass ein feindliches Artilleriegeschoss in der nähe der neuen Schule eingeschlagen war. Bürgermeister Seibel und sein Mitarbeiter Westerburg begaben sich sofort an Ort und Stelle und stellten fest, dass das Geschoss kurz vor der neuen Schule in die Böschung eingedrungen war und ein friedlich weidendes Schaf sofort tötete. Das Schaf, das gut ausgeblutet war, wurde sofort dem Metzger Franz Stahlheber zur Verwertung übergeben. Dieser lies es unmittelbar durch seinen bei ihm beschäftigten französischen Kriegsgefangenen mit einem Handwagen abholen. Der feindliche Artilleriebeschuss wurde daraufhin in gewissen Abständen fortgesetzt. Ein zweites Geschoss ging zugleich mit dem ersten Schuss in der Nähe des Anwesens des Landwirts Eduard Knögel nieder.
Da unser Städtchen zu jeder Stunde mit der Besetzung rechnen musste und um die Ordnung nach der Besetzung aufrecht zu erhalten, wurde am gleichen Abend eine Anzahl Männer in die Privatwohnung des Bürgermeister Seibel Lohbachstrasse 10 beordert, die den Sicherheitsdienst übernehmen sollte. Die Zusammenkunft fand abends um 9:00Uhr statt. Der Bürgermeister erläuterte den zusammengerufenen Männern die Gesamtlage und beauftragte diese den Sicherheitsdienst zu übernehmen, was sie auch bereitwilligst taten. Als Führer wurde der Landwirt Fritz Rück und als Stellvertreter der Lehrer Siegmund Unglert bestimmt. Während der Besprechung mit dem. Sicherheitsdienst an dem fraglichen Abend ging ein feindliches Artilleriegeschoss in das Anwesen des Bürgersmeisters Seibel Lohbachstrasse 10 nieder und richtete erheblichen Schaden am Wohnhaus und Stallungen an. Die Besprechung wurde daraufhin abgebrochen, die Männer begaben sich des feindlichen Artilleriefeuers wegen in die Bunker. Anschließend gingen in kleinen Abständen Artillerietreffer in die Gebäude von Landwirt Karl Steeg, Oberstrasse, Schlosser Willi Seibel, Gronauerstrasse, gleichzeitig wurde auch in derselben Nacht die Scheune des Landwirts Peter Kratz, Oberstrasse stark beschädigt. Durch das starke feindliche, Artilleriefeuer musste die Bevölkerung die ganze Nacht in den von ihr selbst errichteten Bunkern Zuflucht suchen. Die Bunker selbst wurden von Männern, Frauen und Kindern mit den primitivsten Mitteln Tag und Nacht hergestellt. Einzelne davon weisen eine Durchgangslänge bis zu 70 Meter mit gutem Ausgang auf.
Die Bevölkerung musste die ganze Nacht vom Sonntag ‚den 25.bis zum Montag, den 26.3.1945 wegen des Artilleriebeschusses in den Bunkern verbringen. Ein Teil der Landwirte, die ihr Vieh füttern mussten, gingen ängstlich aus den Bunkern nach Hause. Für die in den Bunkern zurückgebliebene Bevölkerung wurde gemeinschaftlich gekocht. Der Montagmorgen brach mit starker Regen an, Bürgermeister Seibel und Stadtsekretär Westerburg begaben sich an dem Montagmorgen auf das Bürgermeisteramt, um die dringlichsten Arbeiten zu erledigen. Hierbei mussten wir schon gleich mehrere Male den in der Nähe des Bürgermeisteramtes gelegenen Bunker aufsuchen.
Um eine raschere Beerdigung der durch die Bombardierung der Schule umgekommenen acht Personen zu ermöglichen, begaben sich die genannten Amtspersonen zu dem Schreinermeister Christian Heil Borngasse um zu veranlassen, dass die Särge beschleunigst fertiggestellt werden sollten. Christian Heil selbst war nicht anwesend Während wir mit der Ehefrau des Heil am Eingang seines Hauses sprachen, ging direkt neben uns ein Artilleriegeschoss nieder. Wie durch ein Wunder blieben wir unverletzt.
Anschließend suchte uns ein Unteroffizier mit zwei Mann der deutschen Wehrmacht auf und forderte in sehr barschen Tönen auf Befehl des Majors und Ortskommandanten, und zwar unter Androhung von Zwangsmaßnahmen, auf vier Wagen Langholz an die Tanksperren fahren zu lassen. Das Fortbringen des Holzes geschah unter dauerndem Artilleriefeuer und starkem Regen. Die Fuhrleute Karl Rörig, Willi Heil und Adolf Färber haben diese Fahrten ausgeführt.
Zum Bürgermeisteramt zurückgekehrt, erschien ein Kurier namens Kurt Knögel aus Nastätten und brachte uns einen verschlossenen Brief von der Kreisleitung, die im neuen Forstamtsgebäude hier, ihren Sitz aufgeschlagen hatten. Der Brief wurde von dem Bürgermeister Seibel sofort geöffnet. Er enthielt die folgenschwere Aufgabe die gesamte Bevölkerung noch am gleichen Abend nach dem Osten evakuieren zu lassen. Mit dem Abtransport sollte auch das gesamte Vieh mitgenommen werden. Diese Nachricht hatte uns stark erschüttert. Wir waren uns schon gleich darüber im Klaren, dass wir unserer Bevölkerung ein solches Schicksal nicht bereiten konnten. Um die Sache abzubiegen, begaben wir uns sofort zur Kreisleitung. Beim Betreten der Kreisleitung merkten wir schon, dass auch schon dort eine große Aufregung herrschte. Von uns wurde kurz und bündig die Angelegenheit vorgetragen und es wurde auch nicht verfehlt, darauf hinzuweisen, dass eine Evakuierung bei einem solchem Beschuss und der Kürze der Zeit nicht mehr durchzuführen sei. Der Kreisleiter, den wir selbst sprechen wollten, hatte schon mit seinen Kraftwagen das Weite gesucht. Um der Bevölkerung die Evakuierungsmaßnahmen bekannt zu geben und noch einmal deren Ansichten über eine Evakuierung zu hören, bestellten wir uns ca. 20 Vertrauensmänner, in den Bunker an der Lohbachstrasse bei Recken. Die Besprechung war auf 2:00Uhr nachmittags angesetzt. Der Ortsgruppenleiter Karl Hehner und der Bürgermeister Peter Haxel, die schon am Sonntag, den 24.3.1945 auf Rädern das Weite gesucht hatten, kamen am Montag, den 25.März wieder zurück und wollten die gesamte Bevölkerung in ein ungewisses Schicksal zurückführen. Die Beiden sind beim Bürgermeister vorstellig geworden, ich erklärte diesen, für heute Mittag um 2:00Uhr Uhr eine Vertrauensmännerversammlung einberufen zu haben, die entscheiden sollte, ob dem Evakuierungsbefehl Folge gegeben oder nicht gegeben werden soll. Zu dieser Besprechung sind der Ortsgruppenleiter und der damalige Bürgermeister auch erschienen. Sämtliche Erschienenen waren sich sogleich darüber klar, lieber in der Heimat zu sterben als im Chausseegraben umzugeben. Nur ein Pferdefuhrwerk des Landwirts Ludwig Schmelzeisen (damaliger Ortsbauernführer) fuhr an dem gleichen Abend mit seiner Familie, der des Bürgermeisters Haxel, des Ortsgruppenleiters Karl Hehner und des Wagners David Dauer auf Befehl des Ortsgruppenleiters ab und verließen die Heimat und fuhren einem ungewissen Schicksal entgegen.
Am gleichen Abend war auch der wehrfähige Volkssturm der Jahrgänge 1884 bis- 1928 aufgerufen, die Heimat zu verlassen, hiervon hatten einige Folge geleistet, die aber. schon am nächsten Tage wieder zurückkamen. In der gleichen Nacht gab der deutsche Stadtkommandant Major ... dem Bürgermeister Seibel den Befehl, dafür Sorge zu tragen, dass der letzte Termin zum Antritt des Volkssturms auf 3:00 Uhr frühmorgens gesetzt sei. Dieser Befehl überbrachte der Schlossermeister Heinrich Haxel dem Bürgermeister gegen 1:00 Uhr nachts, der sich im Luftschutzbunker befand. Heinrich Haxel war von dem Kommandanten beauftragt, den Volkssturm zurückzuführen. Der Befehl ist von dem Bürgermeister sofort abgelehnt worden. Die weitere Nacht verlief ruhig.
Schon am frühen Morgen des nächsten Tages erfolgten mehrere Detonationen, die auf die Sprengung der Brücken schließen ließen. Als die Panzer im Anrollen waren, gab der Bürgermeister dem Polizeichef Fritz Rück den Auftrag, an jedem Straßenausgang einen beherzten Mann mit einer weißen Fahne aufzustellen, der dem ersten anrollenden Panzer ein Zeichen geben sollte, dass die Stadt sich ergeben will, um weiteren Schaden zu verhüten. Der Befehl des Polizeichefs wurde sofort ausgeführt. Als die anrollenden Panzer sich in Höhe des Oelsberger Grabens befanden, wurde in der Rheinstrasse die letzte Brücke noch von den deutschen Truppen gesprengt. Ein deutscher Militärlastwagen, der im letzten Moment noch über die Brücke wollte, stürzte infolge der raschen Fahrt kurz vor der Brücke infolge der Kurve um. Gleich darauf hielten die Panzer vor der gesprengten Brücke. Sofort lösten sich zum Teil die Mannschaften aus ihren Wagen und begaben sich unter Führung eines Offiziers in die Mitte der Stadt.